“Die Presse veröffentlicht [bei der Kriminalberichterstattung] Namen, Fotos und andere Angaben, durch die Verdächtige oder Täter identifizierbar werden könnten, nur dann, wenn das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit im Einzelfall die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegt.” (Deutscher Presserat, Richtlinie 8.1 im Pressekodex)

Ein eilig geschriebener Zettel klebt am Tag der Durchsuchung an der Eingangstür. Passanten wundern sich, der Laden gilt als unauffällig.
Ausnahme: “eine außergewöhnlich schwere oder in ihrer Art und Dimension besondere Straftat” – das mag auf den NSU und seine Mordserie zutreffen. Vielleicht kennt deshalb inzwischen jeder die Namen der Hauptverdächtigen: Zschäpe, Böhnhardt, Mundlos. Aber wie ist es mit anderen Beschuldigten, die nicht in München als Angeklagte vor Gericht stehen und deren Rolle im Netzwerk noch nicht eindeutig geklärt ist?
Eine Szene, die sich eingebrannt hat
Der Mann auf dem Sofa zittert. Vor Anspannung vielleicht, weil der Laden seines Sohnes gerade gründlich von der Polizei nach Waffen durchkämmt wurde. Vielleicht vor Schmerz, weil sein Sohn als Beschuldigter im Zusammenhang mit dem NSU gilt und als solcher – mit vollem Namen – im Internet genannt wird. “Wenn ich seinen Namen google, steht da immer noch Beschuldigter”, sagt er.
Wir, ein Kollege und ich, stehen vor ihm, im Arbeitszimmer des Ladens seines Sohnes, weil der uns eingeladen hatte, um über den Polizeieinsatz zu reden. Seit dem Morgen hatten die Beamten unter anderem seine Wohnung und das Geschäft auf den Kopf gestellt. Es ginge um den Verdacht auf unerlaubten Waffenbesitz, hatte die Staatsanwältin nur gesagt. Eine Polizeisprecherin erwähnte aber auch, dass das Operative Abwehrzentrum (OAZ) für den Einsatz zuständig sei. Eine Einrichtung, die in Sachsen gegründet wurde, um künftig effektiver gegen Rechtsextremismus vorgehen zu können. Das war mein Kenntnisstand, als ich mittags erstmals zu dem Laden gefahren war. Der war natürlich geschlossen, die Polizisten durften mir nichts sagen. Nicht, ob sie etwas gefunden hatten, nicht, warum das OAZ dabei war. Von außen sah ich, wie die Deckenplatten angehoben wurden, um darüber zu schauen, wie Polizistinnen DVD-Boxen aus den Regalen räumten, um dahinter zu schauen. Die Nachbarn, ein ehemaliger Praktikant, andere Ladenbesitzer: Keiner hatte eine Erklärung für den Polizeieinsatz, der mittlerweile seit Stunden lief. Die Staatsanwältin wollte auch erst mehr sagen, wenn die Durchsuchung abgeschlossen sei.
Der entscheidende Tipp kam von einem Kollegen: Der Ladenbesitzer soll eine Verbindung zum NSU haben, hatte er gehört. Ein Blick in unser Archiv zeigte: Tatsächlich hatte es in dem Zusammenhang vor anderthalb Jahren schon eine Durchsuchung desselben Ladens gegeben. Es ging um die Frage, wer dem NSU-Trio die Waffen besorgt hatte. Noch ohne die aktuellen Ergebnisse zu kennen, sind wir nachmittags zum Laden zurückgekehrt. Der Inhaber zeigt uns die Spuren der Durchsuchung, aufgehackte Fließen und Wände, und erzählt seine Sicht. Der junge Mann will nichts mit den Waffen zu tun gehabt haben, und verdächtigt selbst einen ehemaligen Mitarbeiter.
(Zum Nachlesen: Unsere Geschichte nach der Durchsuchung und die gesamte Waffenspur, wie sie ein Kollege recherchiert hat.)
Empathie, die vor Fehlern schützt

Zahlreiche Einsatzfahrzeuge der Polizei stehen vor und hinter dem durchsuchten Haus. Mit der Presse reden dürfen die Polizisten vor Ort nicht.
Natürlich müssen wir über den Einsatz berichten, zumal Beate Zschäpe unter falschem Namen eine Kundenkarte des Geschäftes hatte. Natürlich lässt es sich für einen Anwohner, der den Polizeieinsatz gesehen hat, nachvollziehen, wem der Artikel gilt. Wir haben uns dennoch entschieden, den Namen des Inhabers nicht zu nennen. Vielleicht wusste der Mittdreißiger, was in seiner Zwickauer Filiale lief – vielleicht nicht. Vielleicht spielt er den Unschuldigen – vielleicht ist er auch nur ein Familienvater, der auf den Falschen als Mitarbeiter gesetzt hat. Wir wissen es nicht, und ist es nicht Aufgabe von Polizei und Justiz, hier für Aufklärung zu sorgen?
Andere Artikel, die ich zur ersten Durchsuchung fand, waren weniger zurückhaltend. Auf dem Internetauftritt einer überregionalen Tageszeitung wird der volle Name des Verdächtigen (und der seines Mitarbeiters, dessen Wohnung damals ebenfalls durchsucht wurde) genannt. Warum er nicht anonymisiert wurde, wollte ich von der Politikredaktion der Zeitung wissen. Meine zwei Anfragen per E-Mail blieben unbeantwortet.
Natürlich hat jeder im Heimatort davon gehört, dass der Sohn Verbindungen zum NSU gehabt haben soll, erzählt sein Vater: “Das ist rum, na klar.” Er zeigt uns einen ausgeschnittenen Artikel an der Pinnwand, den eine Kollegin über sein eigenes Geschäft in dem Dorf geschrieben hatte. Der Mann ist bleicher als auf dem Foto, sein Sohn weit entfernt von entspannt. Die Ermittlung hat Spuren hinterlassen, nicht nur an den Wänden. Natürlich lässt mich das nicht kalt. Aber ich glaube, Empathie ist wichtig in unserem Job; Empathie hilft, uns vor Fehlern zu bewahren, die das Leben von Menschen ändern können.
Tagged: Chemnitz, Durchsuchung, Laura Kaiser, NSU, Polizei, Polizeieinsatz, Pressekodex, Presserat
