Wer einen neuen Job antritt und noch dazu in eine andere Stadt zieht, der hat eine Menge Vorurteile im Gepäck – positive wie negative. Die meisten erweisen sich als Illusion. Heute packe ich aus.
1. Vorurteil: Ich brauche kein Auto.
Ich liebe mein Fahrrad. Zugegeben, es ist in die Jahre gekommen. Aber gerade darin liegt sein Charme. Mein Fahrrad hat Charakter, eine Geschichte. Das melodiöse Klappern der Schutzbleche, der schorfrote Kettenrost, der mit Aufklebern tätowierte Rahmen – Altersspuren eines langjährigen Freundes.
Chemnitz ist eine fahrradfeindliche Stadt. Nicht, dass kein Platz dafür wäre. Die Straßen sind so breit, dass Panzer darauf fahren könnten. Allein, Radwege sind rar und das tägliche Kaßberg-Auf-und-Ab stellt die Treue zu meinem altersschwachen Kumpel auf die Probe. Das ist sicher noch kein Grund, ihn abzuschaffen. Immerhin hält mich das fit und wach.
Und dennoch musste ich meinen bis dato ökologisch einwandfreien Fuhrpark kürzlich erweitern. Seit April bin ich für die Freie Presse im Erzgebirge. Ein neuer, motorisierter Freund musste her. Der Traum vom radelnden Reporter: aus.
2. Voruteil: Kantinen sind grässlich.
Mir graute es schon immer vor Kantinen. Allein dieses Wort verheißt nichts Gutes. Kantine, das klingt monoton, fad, eintönig – Eigenschaften, die man eher ungern auf seinem Teller vorfindet. Allen Bedenken zum Trotz hat sich die Chemnitzer Kantine als ein tägliches Highlight erwiesen.
Das mag trivial erscheinen. Ist es aber nicht. Denn ein Arbeiter, der morgens keine Brötchen schmieren muss – um sich zur Mittagszeit vor kollegialen Mensaanfragen zu drücken, während er in einer seltsamen Mischung aus Scham und gieriger Vorfreude auf die viel zu kurze Pause wartet, damit er seine tropfenden Zähne selbstvergessen in die alufolienkonservierte Weichheit seines geheimen Rucksackinhalts versenken kann – dieser Arbeiter ist ein glücklicher Arbeiter.
3. Vorurteil: Es gibt kein Mobbing in modernen Redaktionen.
Mein erster Tag in der Kulturredaktion Chemnitz: Irgendwann muss ich auf Toilette. Ich frage nach. Den Gang runter, dann links, ganz einfach, ah ja. Doch schnell wird deutlich: Die Strecke ist gefühlte Kilometer lang. So viele neue Gesichter, für die ich ein gequältes Lächeln aufsetze. Auf dem Weg passiere ich zu meinem Entsetzen gleich zwei Frauentoiletten. Oder habe ich etwas übersehen? Ich gehe zurück, prüfe akribisch alle Türen. Nichts. Also wieder in die andere Richtung. Dann endlich, ich hab schon nicht mehr dran geglaubt, das Tor zur Erleichterung…ahhh.
Die matriarchalische Architektur der Chemnitzer Redaktion – nichts für schwache Männerblasen. Ich fühle mich gemobbt. Eins ist klar: Wir brauchen einen Gleichstellungsbeauftragten.
4. Vorurteil: Chemnitz ist hässlich
Bei Chemnitz dachte ich früher an ein Grau in Grau aus Plattenbauten und Fabrikanlagen. Eine Glocke aus Auto- und Industrieabgasen, so stellte ich mir vor, würde die Stadt von allem Guten, Schönen und Wahren abschirmen. Unter der Glocke würden sich miesepetrige Menschen durch die müllverstopften Straßen schieben. Die giftige Atmosphäre würde das Sonnenlicht zu kuriosen Farben brechen. Bei saurem Regen würden sich alle in ihre asbestverseuchten Wohnungen verkrümeln.
Und heute? Nun, ich wurde eines Besseren belehrt. Zwar ist Chemnitz nicht schön im Sinne eines Ich-will-hier-sofort-ein-Haus-bauen-und-Kinder-groß-ziehen-Schön. Aber wer sich drauf einlässt, der kann dem Flickenteppich aus Jugendstilvillen (Kaßberg), ausladenden Grünflächen (Küchwald), betäubendem Leerstand (Brühl) und kulturindustriellen Überbleibseln (der Rest) ein gewisses Kribbeln abgewinnen.
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