Der erste Lichtellauf: Der kopfsteingepflasterte Platz vor dem Rathaus in Schneeberg hat an diesem Tag etwas von Volksfest. Es wird sich umarmt und quer über dutzende Köpfe hinweg gerufen: „Bist ja auch da!“. Menschen in Winterjacken stehen in Grüppchen beieinander, manche am Rande des vielleicht fußballfeldgroßen Areals wärmen ihre Hände an Kaffeebechern. In wenigen Minuten soll der erste Schneeberger „Lichtellauf“ beginnen, eine Demonstration gegen Asylmissbrauch, die ein Mann von der NPD angemeldet hat. Der Name Lichtellauf ist angelehnt an das „Lichtelfest“ im Advent, das die Stadt jährlich veranstaltet und damit tausende Besucher in die Bergstadt lockt. Das Lichtelfest hat seit jeher etwas Heimeliges und Märchenhaftes. Weihnachten, Winter, Wunderland. Der Lichtellauf hingegen sollte bald mit Fremdenfeindlichkeit, mit Kälte, mit Nazis assoziiert werden. Bald, doch heute noch nicht. Heute haben sich vor dem Schneeberger Rathaus mehrere hundert Menschen versammelt. Die meisten Männer und Frauen halten sich am Rande des Geschehens auf. Spricht man sie darauf an, warum sie an einer Demonstration teilnehmen, die ein NPD-Mann veranstaltet, sind Antworten wie „Ich will nur mal schauen, was hier so los ist“, Standard. „Wir sind keine Nazis“, sagt der Ein oder Andere. Sie warten also. Schauen. Später laufen die meisten von ihnen nicht mit bei dem Zug gegen „Asylmissbrauch“. Die Mitläufer sind diejenigen, die an diesem Tag in der Mitte stehen, ein Kern aus jungen Männern und einigen Älteren, von denen viele an der zweiten Demonstration zwei Wochen später schon gar nicht mehr teilnehmen werden.
Wer hier in Schneeberg überhaupt Asyl missbraucht, ist noch unklar. Alles, was das Gros an Information hat, ist, dass seit einiger Zeit Asylbewerber in einer ehemaligen Kaserne am Stadtrand untergebracht sind. Nun beginnt der NPD-Funktionär seine Rede. Er behauptet zu wissen, dass die, meist tschetschenischen, Besucher Unruhe in die Stadt brächten. Mehr Kriminalität. Außerdem bekommen sie Geld vom Staat. Das hält manch Schneeberger für unfair. Zwischen Tchibo-Bechern und Zigarettenrauch klagen sie über ihr karges Gehalt und das deutsche Sozialsystem.
Der Applaus vom Rande des Geschehens für die Worte des NPD-Mannes ist jedoch verhalten und leise. Nur die Truppe in der Mitte klatscht laut und bekundet Zustimmung in tiefen Stimmlagen.
“Lügenpresse, auf die Fresse!” und “Wir sind das Volk”
Ich berichte für die Freie Presse über die Veranstaltung. Meine zwei Kollegen sind irgendwo im Getümmel verschwunden. Ich gehe auf die vermeintlich Rechtsgesinnten in der Mitte zu und frage sie nach ihren Motiven. Heute bekomme ich noch Antworten, die von „Wenn sie (die Asylbewerber) schon hier sind, sollen sie sich wenigstens benehmen“, bis hin zu „Die sollen unsere Frauen in Ruhe lassen!“ reichen. Beim nächsten Lichtellauf möchte keiner vom harten Kern, der zwei Wochen später nicht nur größer, sondern auch jünger und männlicher geworden ist, mit der Presse reden. Ein chorales „Lügenpresse, auf die Fresse!“ wird alles sein, was an O-Tönen für Journalisten, die sich als diese zu erkennen geben, zu holen ist. Die Aussagen, die ich heute erhalte, sind wenig aufschlussreich. Keiner von den Interviewpartnern hat mitbekommen, dass die Asylbewerber Frauen angegangen sind, keiner hat kriminelle Handlungen beobachtet, keiner kann überhaupt mit Sicherheit sagen, die Bewohner der Kaserne gesehen zu haben. Doch gehört haben sie es alle. In der Facebook-Gruppe, die der NPD-Funktionär anführt, zum Beispiel. Darin erfährt man, dass ein tschetschenischer Mann in der Umkleidekabine beim Textilwarengeschäft Kik sein Geschäft verrichtet haben soll und Männer aus dem Heim Frauen belästigt hätten.
Nachdem die Protestler begonnen haben, sich zu einem Zug zu formen und vom Rathaus zu entfernen, spricht keiner mehr mit mir. Die Truppe ist damit beschäftigt, „Wir sind das Volk!“ zu skandieren. Einige haben Fackeln in der Hand. Sie stampfen beim Gehen geräuschvoll mit den Füßen. Mir wird mulmig.
Der Lichtellauf endet schließlich ohne besondere Vorkommnisse, „friedlich“ vermerkt die Polizei in einer Presseerklärung im Anschluss an das Geschehen.
In den kommenden Tagen verbreitet sich die Kunde vom Schneeberger Lichtellauf wie ein Lauffeuer. In Chemnitz, in Sachsen, in ganz Deutschland. Vor allem die überregionale Presseberichterstattung verärgert die Schneeberger. Der Osten ist voller Nazis – das Klischee wird in einigen der Artikel nämlich voll bedient. Die Schneeberger fühlen sich stigmatisiert. Die Parteien bis auf die NPD halten Krisensitzungen ab. Was tun, um den Ruf des schönen Schneebergs zu retten? Was tun, damit auch dieses Jahr viele Touristen zum Lichtelfest im Advent anreisen? Zunächst wird ein Friedensgebet veranstaltet. Ich war vor Ort und veröffentlichte die Besucherzahl (750 beim Gebet, 900 bei der anschließenden Kundgebung auf dem Marktplatz), die mir ein Polizist sowie ein Veranstalter nannten. „Lügenpresse“, hieß es daraufhin in der Facebook-Gruppe des NPD-Mannes. So viele Friedensgebet-Teilnehmer können es nie gewesen sein, wird gesagt und geschrieben. In einer Vehemenz, die sogar einen Blogger der „Zeit“ offenbar zu der Überzeugung brachte, dass die Freie Presse im Fall Friedensgebet falsche Zahlen veröffentlicht hätte.
Wenn viele einfach nur “mal gucken” wollen
Zwei Wochen später: der nächste Lichtellauf. Diesmal ohne Fackeln, dafür mit einem Aufruf an Kinder, Lampions mitzubringen. Die Volksfestatmosphäre hat sich erledigt. Diesmal herrscht im Vorfeld der Demonstration Still auf dem Platz vor dem Rathaus. Rechtsgesinnte aus umliegenden Städten sind angereist, der harte Kern in der Mitte ist groß. Am Rande befinden sich nur noch wenige Schaulustige. Keiner von ihnen sagt mehr „Ich will nur gucken“. Stattdessen machen sie mir gegenüber ihrem Ärger Luft, dass die Presse Schneeberg verunglimpfen würde. Doch niemals wäre Schneeberg derart in die Schlagzeilen gekommen, hätten nicht so viele Leute „mal geguckt“.
Nach einer weiteren Demonstration, die auch linke Gegendemonstranten aus verschiedenen Städten anzog, schlief die Lichtellauf-Sache erst einmal ein. Aus Respekt vor der Tradition, so der NPD-Mann, solle für die Zeit des Lichtelfestes keine weitere Aktion stattfinden. Unterdessen wehrt sich die Politik in Schneeberg gemeinsam mit engagierten Bürgern gegen das Negativ-Image. Unter Federführung aller Parteien (mit Ausnahme der NPD) werden Friedensgebete, ein Familienfest mit den Asylbewerbern und Bürgerfragestunden gegen Ängste und Gerüchte veranstaltet.
Wie Außenseiter erzeugt werden…
Ich habe Soziologie studiert und meine allerletzte Prüfung war über ein Buch namens „Etablierte und Außenseiter“ von Norbert Elias. Ich musste während der Berichterstattung über Schneeberg sehr oft daran denken. In „Etablierte und Außenseiter“ geht es um die Frage: Wie genau kommt es eigentlich dazu, dass ganze Gruppen von Menschen ausgegrenzt werden? Juden, Türken, Afroamerikaner. Der Autor nennt viele historische Beispiele und führt eine eigene Studie in einem Dorf, in dem auf Alteingesessene plötzlich Neulinge trafen, die innerhalb kürzester Zeit einen ziemlich schlechten Ruf weg hatten, durch. Unhygienisch, kriminell, hinterhältig, das sind die Adjektive, die auf die „Außenseiter“ angewendet werden – und zwar, so Elias, auf fast alle Außenseitergruppen im Laufe der Weltgeschichte. In besagtem Dorf, bei den Juden, den Türken, den Afroamerikanern. Und in Schneeberg. Aber Achtung! Nicht jede Gruppe kann zur Außenseiter-Gruppe werden. Nur diejenigen, die unter anderem von Anfang an weniger Zusammenhalt haben im Vergleich zu den „Etablierten“, den Mobbern quasi. Das ist in Schneeberg gegeben – die Asylbewerber kennen sich untereinander kaum, die Schneeberger sind miteinander verbandelt und stolz auf ihre Heimat. Auch eine, laut dem Autor von „Etablierte und Außenseiter“, zweite Außenseiter-Vorbedingung erfüllen die Bewohner der ehemaligen Schneeberger Kaserne: Sie sind ärmer an einem Macht-Mittel, das für den sozialen Status wichtig ist. In dem Dorf, das Elias untersuchte, war für den sozialen Status entscheidend, dass man in Vereinen und in der Lokalpolitik Posten innehatte. In Schneeberg ist das Macht-Mittel, das Asylbewerber und Einheimische trennt, das Geld (wie in fast allen kapitalistischen Gesellschaften).
Ein besonders gut funktionierender Trick, um andere zu Außenseiter zu machen, ist Generalisierung. Einer aus einer Gruppe begeht einen Fehler – schon werden alle anderen aus derselben Gruppe mit jenem Fehler assoziiert. Genau das wurde auch in Schneeberg praktiziert: Da mag ein Asylbewerber eine Schneebergerin mehr oder weniger freundlich angesprochen haben – sofort diente es für die Lichtelläufer als Beweis dafür, dass Asylbewerber Frauen belästigen würden. Der Schluss von einem auf alle ist ein Trick, um Menschen auszugrenzen, der in „Etablierte und Außenseiter“ beschrieben wird. Besonders nachdrücklich ist mir in Erinnerung geblieben, welche Reaktionen ein Bild auslöste, dass der NPD-Mann oder einer seiner Mitstreiter auf Facebook postete. Es war unmittelbar nach dem Familienfest mit den Tschetschenen. Auf diesem Bild war ein Mädchen aus dem Asylbewerberheim abgebildet, das ein Handy in der Hand hielt. Auf Facebook stürzte sich alles auf das Foto. Die Kommentare online unter dem Bild und offline in den nächsten Tagen auf dem Schneeberger Marktplatz gingen in die Richtung: „Woher hat die denn das Handy? Von welchem Geld wurde das bezahlt? Aha, die kriegen also Handys finanziert? Und was ist mit uns, ich will auch ein Handy vom Staat.“ Als wäre dieses Bild der ultimative Beweis dafür, dass diese Menschen, die in ihrer Heimat alles zurücklassen, um in ein Land zu reisen, wo sie sich Hilfe erhoffen, mit eiskaltem Kalkül das Sozialsystem ausnutzen würden. Das Youtube-Video, das die Lichtelläufer mit ihren Fackeln „Wir sind das Volk!“-rufend zeigt, erfüllte eine ähnliche Funktion. Der ultimative Beweis, dass alle Schneeberger Nazis sind. Und dass die Presse eine falsche Zahl veröffentlicht hat, ist der Beweis, dass die Presse an sich ein gleichgeschaltetes Lügengebilde ist. Gefeit ist niemand vor der Ausgrenz-Automatik. Auch wir nicht. Dagegen hilft nur Nachdenken.
